Der Europawahlkampf in Spanien wird aus nationaler Perspektive geführt und gilt als wichtiges Stimmungsbarometer für die Perspektiven von Regierung und Opposition. Sollte das konservative Lager aus Partido Popular und der rechtspopulistischen Vox-Partei zulegen, könnte die innenpolitische Situation für die bereits geschwächte Regierung unhaltbar werden. Ministerpräsident Pedro Sánchez hatte unlängst eingestanden, mit seiner fragmentierten Koalition aus Sozialisten, Linkspopulisten und Separatisten über keine Mehrheit im Congreso de los Diputados zu verfügen. 2024 wird die Regierung also keinen Haushalt vorlegen. Sánchez ist der erste spanische Regierungschef, der sich nicht auf eine Mehrheit im Unterhaus stützen kann.
Andererseits wird Sánchez das voraussichtlich starke Ergebnis „der Rechten“ – sowohl in Spanien als auch in Europa – instrumentalisieren: Sánchez ist davon überzeugt, er selbst sei der letzte Schutzwall gegen einen drohenden „Rechtsruck“ auf dem Kontinent.
Unter den gegebenen politischen Umständen ist davon auszugehen, dass der PP die Themen zur Wahl setzen wird. Drei werden voraussichtlich im Vordergrund stehen:
Der PP thematisiert im Wahlkampf das Verhältnis europäischer Politik zur Situation der Justiz in einzelnen Mitgliedsstaaten. Außerdem wird das Amnestiegesetz der linken Regierung diskutiert, wie auch die verabschiedete Reform des Strafrechts (Veruntreuung, Terrorismusdefinition). Deutlich kritisiert wird die versuchte Einflussnahme auf Untersuchungsrichter durch die Exekutive. An die EU-Institutionen wird damit die Erwartung herangetragen, als Veto-Spieler zu agieren; ähnlich wie im Falle Polens und Ungarns.
insbesondere aus dem Topf der Aufbau- und Resilienzfazilität in Höhe von insgesamt 163 Milliarden Euro. Der PP kritisiert die bislang schleppende Auszahlung der next generation funds. Dies schade spanischen Unternehmen, vor allem Mittelstand und kleinen Familienbetrieben, welche die Zugpferde der spanischen Wirtschaft sind.
Die Situation im ländlichen Raum mit Unterversorgung in der öffentlichen Daseinsvorsorge und demografischem Wandel „España vaciada“ sowie die Schwierigkeiten landwirtschaftlicher Betriebe mit Bürokratie, Umweltauflagen und Subventionen sind weitere Themen, die der PP im Wahlkampf spielt.
Innerhalb der Regierungskoalition haben die Wahlen vor allem für Podemos herausragende Bedeutung. Sollten die Linkspopulisten mit Spitzenkandidatin Irene Montero kein Mandat erlangen, könnte dies das politische Ende der Formation bedeuten. Gleichzeitig würde ein solches Ergebnis den bisherigen Kurs in Frage stellen, die Regierung zu stützen. Auch ein schlechtes Ergebnis innerhalb des separatistischen Blocks in Katalonien (ERC/Junts) könnte sich auf die Stabilität der Regierung auswirken – ein klarer Wahlverlierer hätte weniger Anreize, künftig in Madrid noch kooperativ zu agieren.
Für die sozialdemokratische PSOE steht neben der Regierungsfähigkeit in Spanien aber auch in Europa manches auf dem Spiel: Das gute Abschneiden der Partei 2019 hatte das Vorrücken spanischer Sozialisten auf verschiedene europäische Spitzenpositionen begünstigt: Josep Borrell, PSOE-Spitzenkandidat in den vorherigen EP-Wahlen, ist seit Dezember 2019 Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Nadia Calviño wurde unlängst zur Präsidentin der Europäischen Investitionsbank ernannt. Ein schwaches Abschneiden der Sozialdemokraten würde Sánchez eines wichtigen Pfundes in Brüssel berauben. Deshalb bemüht sich die PSOE, ihren Einfluss in Brüssel und das gute standing von Sánchez unter den EU-Partnern im Wahlkampf zu vermarkten – eine wirkliche Auseinandersetzung mit Sachthemen ist dagegen nicht zu erwarten.
Zu den kleineren Formationen: Vize-Regierungschefin Yolanda Diaz (Sumar, Linkspopulisten) wird die EP-Wahl als Entscheidung zwischen einem „progressiven” Europa und den vermeintlich rückwärtsgewandten und gesellschaftspolitisch regressiven Kräften stilisieren. Vox wird unter einer neuen Führung stärker auf das „Europa der souveränen Vaterländer” abzielen, eine Austrittsdebatte wird aber wohl nicht geführt.
Die katalanischen Linksrepublikaner (ERC) und die linksextremistische baskische Bildu-Partei treten im Wahlbündnis “Ahora Repúblicas” an und werden vor allem die Anerkennung ihrer Regionalsprachen im Europaparlament zum Wahlkampfthema machen.
Der ehemalige katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont, der wegen des illegalen Unabhängigkeitsreferendums vom Oktober 2017 von der spanischen Justiz gesucht wird, gab bekannt, für seine Partei in den vorgezogenen katalanischen Regionalwahlen am zwölften Mai zu kandidieren. Der Urnengang in Katalonien stellt die Europawahlen damit in jeder Hinsicht in den Schatten: Ob Puigdemont nach Spanien zurückkehrt und dann womöglich verhaftet wird, und wie sich das Wahlergebnis auf die Stabilität der Regierung Sánchez auswirkt, sind nur zwei der Themen, welche die Berichterstattung in Spanien in den Wochen bis zur Europawahl dominieren werden.
Autor: Dr. Adriaan P. V. Kühn