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Artikel Europa

Europa vor der Wahl
Tschechiens Vision von einem erweiterten Europa

Autor: Dr. Markus Ehm

Sicherheit und Verteidigung, Migration und eine stabile Energieversorgung für die Industrie stehen in der Tschechischen Republik im Mittelpunkt des Europawahlkampfes. Eine wesentliche Rolle spielt auch der Krieg in der Ukraine. Die besten Aussichten auf den Wahlsieg hat die oppositionelle ANO-Partei des ehemaligen Regierungschefs Andřej Babiš.

„20 Jahre Tschechien in der EU: Vision für ein erweitertes Europa“ – unter diesem Motto zog die politische Spitze des Landes im Rahmen einer Konferenz auf der Prager Burg Bilanz. Dabei unterstrich Staatspräsident Petr Pavel den Wohlstandsgewinn seit dem EU-Betritt im Jahr 2004. Heutzutage erreiche der Lebensstandard in Tschechien bereits annähernd 90 Prozent des EU-Durchschnitts. „Damit haben wir Länder wie Spanien, Griechenland und Portugal überholt und Italien im Blick“, erläuterte das Staatsoberhaupt.

Die Flagge Tschechiens.In zwei sich berührende Flächen ragt von links eine dritte als Dreieck hinein.

Wirtschaft und Migration sind zwei große Themen im Europawahlkampf in der Tschechischen Republik.

MozZz; HSS; AdobeStock

Einkommensverluste und Pessimismus

Trotz dieser langfristigen Erfolgsgeschichte beschäftigen die Bevölkerung und die Politik gegenwärtig Finanz- und Wirtschaftsthemen. Annähernd 40 Prozent der Tschechen gehen davon aus, dass sich ihr Lebensstandard zukünftig verschlechtern wird. Allen voran hatten die Menschen in Tschechien mit einer Inflation von zwischenzeitlich 18 Prozent (September 2022) zu kämpfen, die sich mittlerweile – auch im Zuge von Zinssenkungen der Zentralbank – bei rund drei Prozent eingependelt hat. Obwohl zahlreiche Arbeitgeber die Gehälter erhöht hatten, erlitten die Tschechen 2022 und 2023 Realeinkommensverluste von 8,1 bzw. 4,1 Prozent. Für die gestiegenen Lebenshaltungs- und Produktionskosten waren 2023 die Preisaufschläge für Gas (+43,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr), Strom (+26,4 Prozent) und Mieten (+20,0 Prozent) verantwortlich.

Die höheren Ausgaben infolge der Inflation setzen die Regierung um Premierminister Petr Fiala (Bürgerdemokraten, ODS) unter Druck. Sie reagierte mit einem Sparhaushalt für die Jahre 2024-2025. Der sieht zum Beispiel Streichungen von Subventionen und die Erhöhung der Einkommensteuer für Steuerzahler mit dem dreifachen Durchschnittsverdienst vor, sowie einer Rentenreform. Letztere sieht für Menschen, die heute 52 Jahre oder jünger sind, eine Anhebung des Renteneintrittsalters von bisher 65 Jahren um sieben Monate vor. Zudem sollen Rentenerhöhungen in der Zukunft geringer ausfallen. Die Oppositionspartei ANO stellte bereits in Aussicht, diese Maßnahmen im Falle eines Sieges bei den Parlamentswahlen 2025 zurückzunehmen. Außerdem bringt die Regierung Änderungen beim Kündigungsschutz ins Spiel. Arbeitgeber sollen Mitarbeiter zukünftig ohne Kündigungsgrund entlassen können. Für die heiße Phase des Europawahlkampfes kündigten Gewerkschaftsverbände eine Großdemonstration gegen die Renten- und Arbeitsrechtsreform an.

EU-Migrationspakt umstritten

Eine kontroverse Auseinandersetzung entspann sich um den vor einem Monat verabschiedeten EU-Migrationspakt. Dass selbst fünf der sechs EU-Abgeordneten der führenden drei Regierungsparteien ODS, TOP09 und Christdemokraten (KDU/ČSL) im Europäischen Parlament dagegen stimmten, zeigt deren Sorge um eine ablehnende Reaktion von Seiten der Wählerschaft am Tag der Europawahl; besonders der Aufnahme von Migranten aus muslimisch geprägten Ländern steht die Bevölkerung ablehnend gegenüber. Obwohl Premierminister Fiala das Problem der illegalen Migration eindeutig benennt und den Migrationspakt als einen „ersten grundlegenden Schritt“ bezeichnet, der nicht ausreichen werde, kritisiert die Opposition die Vereinbarung scharf: Der Pakt trage zum Schutz der EU-Außengrenzen nichts bei. Den Europawahlkampf prägt dieses Thema maßgeblich.

Im Mittelpunkt der politischen Debatte steht daneben auch die europäische Umwelt- und Klimaschutzpolitik, der sogenannte „Grüne Deal“. Regierungschef Petr Fiala appellierte in seiner europapolitischen Grundsatzrede im Rahmen des Festaktes auf der Prager Burg daran, die Vielzahl an Regelungen zu überdenken. Auch für die „grünen“ Technologien gelte, dass sie am besten im Wettbewerb zwischen Unternehmen und freien Investitionsentscheidungen gedeihen würden, und nicht durch Regulierungen und Planungsvorgaben, so Fiala. Obwohl sich bei der Forderung nach weniger Bürokratie Fiala und Oppositionsführer Andřej Babiš (ANO) in der Sache ein Stück weit einig sind, möchte letzterer mit rhetorischen Spitzen in Richtung Regierungsparteien bei der Bevölkerung punkten. Ein breiter politischer Konsens besteht beim Ausbau von Atomkraftwerken, weshalb Tschechien auf EU-Ebene an einer Kernenergie-freundlichen Politik festhalten wird. Es geht Tschechien im Energiebereich um Versorgungssicherheit, gerade im Wege der Diversifizierung von Energiequellen und Lieferanten. Dem Kampf gegen den Klimawandel räumen gerade einmal zehn Prozent der Bevölkerung Priorität ein (EU-Durchschnitt: 27 Prozent).

Sicherheitspolitik

Überhaupt stellt „SPOLU“, das Bündnis aus ODS, TOP09 und KDU/ČSL, Sicherheit und Verteidigung in den Mittelpunkt des Wahlkampfes. „Den größten Einfluss darauf hat natürlich der Krieg in Europa“, brachte Premierminister Fiala die Bedeutung dieses Themas auf den Punkt, das für 45 Prozent der Tschechen das wichtigste Thema im Europawahlkampf ist und damit die Spitzenposition belegt. „SPOLU“ und die anderen beiden Regierungsparteien „STAN“ (Bürgermeisterpartei) und Piraten sprachen sich in den vergangenen beiden Jahren unisono für eine militärische Unterstützung der Ukraine aus. Sie sehen darin auch einen entscheidenden Beitrag zur Sicherheit des eigenen Landes. ANO-Vorsitzender Babiš vertritt demgegenüber die Meinung, dass sich der Westen zu wenig um Frieden bemühe.

Zudem kritisiert ANO, dass die tschechische Regierung einerseits Geld für die Unterstützung der Ukraine ausgebe, aber gleichzeitig die Steuern in Tschechien erhöhe. Die rechtsextreme Partei „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD) macht Wahlkampf mit dem Slogan „Geld für die Tschechen, nicht für die Ukraine“. Nach einer Umfrage vom Dezember 2023 sind 51 Prozent der Tschechen der Meinung, dass die Ukraine weiterhin so stark unterstützt werden soll wie bisher. Dagegen sprechen sich 41 Prozent aus. Eine im April 2024 durchgeführte Erhebung ergab, dass 59 Prozent der Tschechen finden, das Land habe mehr Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen, als es Kapazitäten habe.

Kleine und radikale Parteien könnten profitieren

Tschechien gehört traditionell zu den EU-Mitgliedstaaten mit einer niedrigen Wahlbeteiligung bei den Europawahlen: 2019 betrug sie gerade einmal 28,72 Prozent, fünf Jahre sogar nur 18,20 Prozent. Dieses Jahr möchten laut Umfragen 30 Prozent der Wahlberechtigten abstimmen. Trotz dieses geringen Interesses gelten die Europawahlen als wichtiger Stimmungstest auf nationaler Ebene für die Regierung und Opposition, denn beide schielen bereits auf die Parlamentswahlen im September 2025. Auch aus diesem Grund tritt das bürgerlich-konservative Wahlbündnis „SPOLU“ der ODS, TOP09 und KDU/ČSL mit einer gemeinsamen Liste an und präsentiert sich geschlossen. Bleibt anzumerken, dass die niedrige Wahlbeteiligung die Europawahl attraktiv für kleine und radikale Parteien macht. Sie können sich realistische Hoffnungen auf den Gewinn von Mandaten machen.

Umfragen, gezielt zu den Europawahlen, erhoben Institute zuletzt Anfang April. ANO könnte demzufolge mit 27,5 Prozent der Stimmen rechnen, SPOLU liegt bei 20,5 Prozent. Um den dritten Platz konkurrieren die rechtsradikale SPD sowie die Regierungsparteien „STAN“ und Piraten mit einem Zuspruch von jeweils um die 10 Prozent. Hoffnungen auf ein Mandat kann sich auch das Wahlbündnis „STAČILO!“ („Es reicht!“) um die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens machen, das aktuell bei 6,7 Prozent steht. Weiterhin geben Meinungsforscher der Anti-Korruptionsbürgerbewegung „Přísaha“ („Eid“) und der Partei „Motoristé sobě“ („Autofahrer sich selbst“) gute Chancen, die Fünf-Prozent-Sperrklausel zu überwinden. Zugleich bleibt für den Moment eine Rückkehr der Sozialdemokraten in das Europäische Parlament unwahrscheinlich.

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