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Proteste in Kirgisistan nach der Parlamentswahl
Die gestohlene Revolution

Der Ärger großer Bevölkerungsschichten in Kirgisistan über das Ergebnis den umstrittenen Parlamentswahlen vom 04. Oktober – einem Sonntag - gipfelte in breiten Protesten am folgenden Montag. Nachdem die Zentrale Wahlkommission auch auf Druck der Straße hin die Wahl schließlich am 06. Oktober für ungültig erklärt hatte, war die Konfusion im Lande groß und es entstand zunächst ein politisches Machtvakuum.

  • Ergebnisse der Parlamentswahlen
  • Die Proteste
  • Annullierung der Parlamentswahlen
  • Die Revolution eskaliert
  • Stabilisierung des Landes
  • Ministerpräsident Sadyr Japarov

Die bisherigen Proteste kosteten das Leben eines 19-jährigen aus dem Süden des Landes und mehr als 900 Menschen wurden verletzt. Sooronbaj Dscheenbekow, immer noch der legitime Präsident des Landes, rief zunächst die Protestierenden zur Ruhe und die involvierten unterschiedlichen politischen Parteien und Bewegungen zur Rückkehr zu den gültigen Rechtsstrukturen und zur Verfassungsordnung auf. 

Ergebnisse der Parlamentswahlen

In Kirgisistan fanden am 04. Oktober Parlamentswahlen statt.

Nach offiziellen Ergebnissen konnten von den teilnehmenden 16 Parteien nur 4 die landesweite 7-Prozent-Hürde überspringen und in das neue Parlament (7. Legislaturperiode) einziehen:

  • Birimdik (Einheit)  - 24,50 Prozent der Wählerstimmen
  • Mekenim Kirgisistan (Meine Heimat Kirgisistan)  -  23,88 Prozent
  • Kirgisistan -  8,76 Prozent
  • Bütün Kirgisistan (Vereintes Kirgisistan) - 7,13 Prozent
Wütende Menge auf den Stufen vor dem Präsidentenpalast

Die Proteste nach den Wahlen waren weitgehend getragen von jungen Leute, Vertretern zivilgesellschaftlicher und berufsständischer Organisationen, Bürgern der intellektuellen Elite und Vertreter von politischen Parteien.

©HSS

Gründe für die Protestwelle

Grundsätzlich waren Proteste von diesem Ausmaß in Kirgisistan nicht erwartet worden. Aber die politische Situation in dem zentralasiatischen Land kann sich jeweils sehr schnell ändern. Das hatten auch die Volksrevolutionen von 2005 und 2010 bereits gezeigt. Damals waren die amtierenden Präsidenten im Laufe eines Tages bzw. im Verlauf einer Woche aus dem Land vertrieben worden.

Die jüngsten Parlamentswahlen, die zu den wütenden Protesten geführt haben, waren die ersten unter der Präsidentschaft von Präsident Dscheenbekow. Er erweckt stets den Eindruck eines anständigen, ausgeglichenen Politikers. Er hoffte wahrscheinlich, dass seine Ankündigung, den an der Wahl teilnehmenden Parteien neutral gegenüber zu stehen, nicht weiter hinterfragt würde.  Aber er hatte wohl nicht berücksichtigt, dass die Bürger die Partei, die von seinem jüngeren Bruder in den Wahlkampf geführt wurde (Birimdik), als „seine“ Partei gesehen haben. Trotz der offiziellen Trennung von Präsidentenamt und Partei bestand die allgemeine Auffassung, dass diese Partei beachtliche staatliche sog. administrative Ressourcen für ihren Wahlkampf nutzen konnte.

Die Partei Mekenim Kyrgyzstan, die bei den Wahlen an zweiter Stelle lag, wurde von einer wohlbekannten Persönlichkeit des Landes, dem ehemaligen stellv. Leiter der Zollverwaltung, Raim Matraimov, angeführt und finanziert. Dessen „Imperium“ liegt im Süden des Landes, konzentriert auf die Städte Osch und Kara-Suu. Es wird spekuliert, dass er dank großer Korruptionsnetzwerke an den Grenzen des Landes ein großes Vermögen anhäufen konnte. Trotz häufiger Anschuldigungen aus Politik, den Medien und der Zivilgesellschaft war er niemals verurteilt worden. Statt dessen konnte er vor den Parlamentswahlen eine eigene Partei gründen, die schließlich an den Wahlen teilnehmen konnte. Mit großem finanziellen Aufwand soll diese Partei landesweit Tausende Stimmen gekauft haben.

Die beiden Parteien Birimdik und Mekenim Kyrgyzstan hätten bei den mittlerweile annullierten Wahlen 91 von insgesamt 120 Abgeordnetenmandaten errungen und so die politische Vorherrschaft der Süd-Clans auf Jahre im Lande gefestigt.

Im heutigen Kirgisistan, in dem soziale Medien immer größere Bedeutung erhalten und junge politische Figuren leicht Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen können, ist es unmöglich, Wahlbetrug zu verschleiern. Die kirgisische Gesellschaft ist politisiert und dynamisch und im Unterschied zu den Nachbarstaaten an politische Turbulenzen gewöhnt. Künftige Revolutionen werden nicht mehr nur am Boden, sondern auch online ausgetragen werden. Die jetzige politische Elite wird dafür kämpfen, den Status Quo zu erhalten. Wir werden sehen, wer letztendlich gewinnt.

Annullierung der Parlamentswahlen

Nach Hunderten Beschwerden von politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, nationalen und internationalen Wahlbeobachtern vor und während der Parlamentswahlen sowie auf den Druck der Straße hin hat die kirgisische Zentrale Wahlkommission schließlich am 06. Oktober 2020 die Wahl und ihre Ergebnisse für ungültig erklärt. Sie hat damit auch die Vorwürfe über illegalen Stimmenkauf und Wahlbetrug bestätigt.

Damit haben alle am 6. Oktober an den Protesten Beteiligten einen großen Sieg erringen können. Einen derartigen Vorgang hat es zuvor in keinem post-sowjetischen Land gegeben.

Menschen vor dem Präsidentenpalast in Bischkek

Die Wahlkommission hat die Wahl und ihre Ergebnisse für ungültig erklärt. Sie hat damit auch die Vorwürfe über illegalen Stimmenkauf und Wahlbetrug bestätigt.

©HSS

Die gestohlene Revolution

Von den geschätzt 20.000 Protestierenden am 05. Oktober in der Hauptstadt Bischkek waren sicher 90 Prozent junge Leute, Vertreter zivilgesellschaftlicher und berufsständischer Organisationen, Bürger der intellektuellen Elite und Vertreter von politischen Parteien. Sie alle hatten sich erhoben, weil sie das Gut von demokratischen Wahlen in ihrem Land nicht aufgeben wollten.

Es gab auch eine Gruppe von gewaltbereiten Demonstranten, die wahrscheinlich aus den ländlichen Regionen des Landes gekommen waren (bzw. gerufen worden waren). Als Polizei und Sicherheitskräfte gegen Abend versuchten, die protestierende Menge aufzulösen, gelang es dieser Gruppe, in der Nacht vom 5. auf 6. Oktober einige Schlüssel-Regierungsgebäude zu besetzen, wozu auch der Regierungssitz und das sogenannte „Weiße Haus“ gehörten, in dem Parlament und Präsidialverwaltung untergebracht sind. In derselben Nacht setzten sie auch den ehemaligen Abgeordneten Sadyr Japarov frei, der verurteilt in der Strafkolonie Bischkek eingesessen und eine elfeinhalbjährige Gefängnisstrafe verbüßte. In den Folgetagen vertrieben sogenannte Volks-Komitees (Herkunft unbekannt, ohne offiziellen Auftrag) landesweit ernannte Gouverneure und Landräte oder auch gewählte Bürgermeister und setzten an deren Stelle eigene Repräsentanten ein. Geschäfte, staatliche Einrichtungen und vor allem Fabriken ausländischer Investoren wurden landesweit geplündert und teilweise in Brand gesetzt.

Gewalt, Plünderung und Brandstiftung ließen die ursprünglichen Ziele der Protestierenden nach mehr Demokratie und transparenten Wahlen schnell vergessen.

Die öffentliche Sicherheit war nicht mehr gewährleistet und das Land glitt immer mehr ins Chaos ab.

Maßnahmen zur Stabilisierung des Landes

Präsident Dscheenbekow hat zunächst vom 09. Oktober bis 21. Oktober den Ausnahmezustand über die Stadt Bischkek verhängt. Damit besteht jetzt in der Hauptstadt ein Ausgangsverbot von 22.00 Uhr abends bis 05.00 Uhr früh. Das Versammlungsrecht ist aufgehoben, überall in der Stadt sind Panzer und Soldaten zur Überwachung des Ausnahmezustands stationiert.

Alle von den sogenannten Volkskomitees aus ihrem Amt vertriebenen Minister, Staatssekretäre, führende Mitarbeiter von Ministerien und staatlichen Agenturen/Institutionen, sowie gewählte Bürgermeister wurden wieder eingesetzt.

Am 14. Oktober 2020 bestätigte das amtierende (eigentlich alte) Parlament nach langen Diskussionen Sadyr Japarov als neuen kirgisischen Ministerpräsidenten, nachdem dieser sein Regierungsprogramm vorgetragen und angekündigt hatte, großenteils mit dem bisherigen Ministerkabinett weiterregieren zu wollen.

All die oben erwähnten Maßnahmen zeigten Wirkung: Seit Samstag, 10. Oktober, hat sich die Lage in Bischkek und im Land beruhigt. Es waren keine weiteren gewaltsamen Auseinandersetzungen zu vermelden und es kam zu keinen weiteren Plünderungen.

Vom Gefängnis auf den Ministerpräsidentenstuhl

Der 51-jährige aktuelle Ministerpräsident und ehemalige Abgeordnete Sadyr Japarov (2005 gewählt aus der Parteienliste „Ak-Yol“ des gestürzten Präsidenten Bakijew, für den er in den letzten beiden Jahren die Anti-Korruptions-Behörde leitete; 2010 gewählt aus der Nachfolgepartei „Ata-Dschurt“) gilt als stark national orientierter kirgisischer Politiker.

Im Oktober 2013 führte Japarov die breiten gewalttätigen Proteste gegen die kanadische Goldmine Kumtor im Regierungsbezirk Issyk-Kul an, die in der Geiselnahme des damaligen Gouverneurs endeten. Er beschuldigte die Regierung, bei der Vergabe der Bergbaulizenz im Jahr 1992 (!) nationale Interessen nicht beachtet zu haben und forderte eine Nationalisierung der Mine. Er wurde daraufhin festgenommen und angeklagt, konnte aber nach Kasachstan fliehen. Überraschenderweise kehrte er selbst im März 2017 nach Kirgisistan zurück, wo er sofort festgenommen und anschließend zu elfeinhalb Jahren Haftstrafe verurteilt wurde. Es war dies bereits seine zweite Verurteilung, nachdem er bereits im Jahr 2012 versucht hatte, mit seinen Anhängern das „Weiße Haus“ zu besetzen. Noch in der Nacht der Proteste hat das kirgisische Oberste Gericht seine Verurteilung annulliert und eine Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet.

Menschenleer  -wie hier vor dem Museum für nationale Geschichte - ist die kirgisische Hauptstadt Bischkek während des Ausnahmezustands.

Menschenleer -wie hier vor dem Museum für nationale Geschichte - ist die kirgisische Hauptstadt Bischkek während des Ausnahmezustands.

©HSS

Ausblick

Das politische Management in Kirgisistan muss lernen, die Ereignisse im Lande detailliert zu analysieren und auch zu prognostizieren. Alles, was in Kirgisistan regelmäßig falsch läuft, resultiert aus der der Tatsache, dass politische Mandatsträger und auch Amtsträger in der öffentlichen Verwaltung nicht die Kapazität zeigen, angemessen und rechtzeitig zu reagieren. Und all dies ist hausgemacht – ohne Einfluss von Moskau oder Peking.

Die Ereignisse vom 5. und 6. Oktober zeigten auch, dass der Großteil der Protestierenden keinen richtigen Anführer hatte, der ihre Forderungen klar einer breiten Öffentlichkeit vermitteln konnte. Heutzutage sind viele der neuen Parteivorsitzenden noch jung und in der Öffentlichkeit wenig bekannt. Sie verfügen über wenig Erfahrung – vor allem, wenn es darum geht, eine solche schwierige politische Situation zu meistern. Ihr mehrmaliger Versuch, einen nationalen Koordinierungsrat zur Lösung des politischen Chaos zu gründen, scheiterte jeweils wegen Unstimmigkeiten untereinander schon zu Beginn. Hingegen erscheinen die bei den Protesten teils radikal und gewaltsam vorgehenden Gruppen straff organisiert und zeigen auch Bereitschaft, die politischen Aktivitäten von demokratisch ausgerichteten und als gemäßigt einzustufenden Gruppen gezielt zu stören.

Es bleibt nur zu hoffen, dass die politischen Parteien in Kirgisistan sich schnell konsolidieren und das Land sich bei den für Anfang Dezember 2020 erwarteten Neuwahlen zum Parlament auf seine bisherige demokratische Kultur besinnt.

Die Welt wird auch mit Interesse beobachten, wie der unter dramatischen Umständen in kürzester Zeit an die Macht gekommene noch unerfahrene Ministerpräsident Japarov seine Rolle ausfüllen wird.

Autor: Dr. Max Georg Meier, Auslandsmitarbeiter der Hanns-Seidel-Stiftung in Bischkek, Kirgisistan.

Unsere Publikationen zum Thema: Kirgisistan

Nordost- und Zentralasien
Veronika Eichinger
Leiterin
Kirgisistan
Dr. Max Georg Meier
Projektleiter Zentralasien