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Denkanstoß aus der neuen Ausgabe des politicus
"Systembruch – Warum die Änderung des Wahlrechts scheitern muss"

Die umstrittene Wahlrechtsreform der Berliner Ampelkoalition wird weiterhin kontrovers diskutiert. In der neuen Ausgabe des politicus gibt Professor Dr. Kyrill-Alexander Schwarz einen Denkanstoß zu diesem Thema.

Prof. Dr. Kyrill-Alexander Schwarz ist
Professor für Öffentliches Recht an der 
Universität Würzburg.

Prof. Dr. Kyrill-Alexander Schwarz ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Würzburg.

Die Ampel-Koalition hat im Frühjahr 2023 mit ihrer Mehrheit im Bundestag eine Wahlrechtsänderung beschlossen. Diese verstößt in mehrfacher Hinsicht gegen das Grundgesetz. Das Wahlrecht ist die entscheidende normative Basis, da mit das wahlberechtigte Volk seinen Willen über die Zusammensetzung des Bundestages verbindlich äußern kann. Wahlen sind aber mehr als eine bloße Entscheidung im parlamentarischen Regierungssystem: Sie legitimieren Herrschaftsausübung und sind daher im demokratischen Verfassungsstaat von elementarer Bedeutung.

Nachdem das Wahlrecht in den vergangenen Jahrzehnten durch ein Mischsystem von Personen- und Verhältniswahl – sich widerspiegelnd in Erst- und Zweitstimme – geprägt war, hat die Ampel-Koalition im Frühjahr 2023 mit ihrer Mehrheit im Bundestag eine Wahlrechtsänderung beschlossen, die an die Grundfesten demokratischer Repräsentation rührt. Dies beruht auf dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren: So sollen zum einen Direktmandate nur noch nach Maßgabe des Zweitstimmenanteils der jeweiligen Partei berücksichtigt werden. Zum anderen ist die sogenannte Grundmandatsklausel, die einer Partei auch bei Verfehlen der Fünf-Prozent-Klausel den Einzug in den Bundestag garantierte, wenn sie zumindest drei Direktmandate erzielt, ersatzlos gestrichen worden. Dieser Mechanismus kann dazu führen, dass die CSU bei der nächsten Bundestagswahl zwar einen Großteil der Direktmandate in Bayern erzielen könnte, diese aber entweder bei einem geringeren Zweitstimmenanteil nicht alle berücksichtigt würden und damit verwaist wären oder aber für den Fall, dass die CSU bundesweit unter fünf Prozent der Stimmen bliebe, die Partei überhaupt nicht mehr im Bundestag vertreten wäre.

Mindestbedingungen missachtet

Angesichts dieser Konsequenzen stellt sich die Frage, ob eine solche Ausgestaltung des Wahlrechts mit den verfassungsrechtlichen Grundaussagen des Grundgesetzes zu vereinbaren ist. Dem ist – um es vorwegzunehmen – aus vielen Gründen nicht so: Auch wenn das Grundgesetz dem Wahlrechtsgesetzgeber viel Gestaltungsspielraum lässt und damit auch verschiedene Wahlsysteme gestattet, so muss der Gesetzgeber gleichwohl Mindestbedingungen beachten, wenn er das Wahlrecht mit dem Ziel einer Verkleinerung des Bundestages und damit der Kostenersparnis (ein im Übrigen fast populistisches Argument angesichts der Kostensteigerungen durch die Schaffung neuer Stellen in der Bundesbürokratie) ändert.

Die Ampel-Koalition hat im Frühjahr 2023 mit ihrer Mehrheit im Bundestag eine kontroverse Wahlrechtsänderung beschlossen.

Die Ampel-Koalition hat im Frühjahr 2023 mit ihrer Mehrheit im Bundestag eine kontroverse Wahlrechtsänderung beschlossen.

HSS; IMAGO

Die Entwertung der Wählerstimmen

Die Einwände lassen sich wie folgt zusammenfassen: Wenn im Extremfall die CSU nicht an der Sitzverteilung teilnähme, hätte dies zunächst zur Folge, dass ein erheblicher Anteil der Wählerstimmen einem Wahlsystem zum Opfer fiele, das seine Bedeutung als Repräsentationsfaktor politischer Macht in den Ländern völlig verloren hat.

Das neue Wahlrecht schließt demokratische Teilhabe auf Bundesebene massiv aus, die Integrationsfunktion von Wahlen droht verloren zu gehen. Noch prekärer wird aber die Situation bei den Direktmandaten. Es ist dem Wähler nicht zu vermitteln – und begründet damit einen Mangel auch mit Blick auf die Verständlichkeit des Wahlrechts –, wenn der wahlberechtigte Bürger bei der von ihm abgegebenen Erststimme erst nach der Auszählung der Zweitstimmen erkennen kann, ob „sein“ Kandidat überhaupt gewählt worden ist und sich damit die abgegebene Stimme auch im Wahlergebnis wiederfindet. Das nunmehr beschlossene Wahlrecht führt bei Lichte besehen dazu, dass die Direktwahl nur noch eine Vorauswahl darstellt, die unter dem Vorbehalt der späteren Korrektur durch das Zweitstimmenergebnis steht. Dann aber entscheidet – entgegen einer Grundannahme des Demokratieprinzips – nicht mehr die Mehrheit, sondern der von anderen Faktoren abhängige Zweitstimmenanteil der Partei. Die Wahl mit der Erststimme ist dann keine Wahl mehr, sondern eine bloße Präferenzentscheidung.

Dieser Kommentar unseres Autors erschien in der neuen Ausgabe des politicus.

Dieser Kommentar unseres Autors erschien in der neuen Ausgabe des politicus.

Bärendienst der Ampel

Die Wahlrechtsreform, die einen Systemwechsel ohne Vorbild darstellt, ist zudem problematisch, weil sie schon für die nächste Bundestagswahl 2025 gelten soll und die Koalitionäre der Ampel-Parteien damit eine sie begünstigende Entscheidung in eigener Sache getroffen haben, die ganz offensichtlich – und so auch durch Regierungsvertreter zugestanden – der Sicherung der eigenen Mehrheit dienen soll. Damit verfehlt sie aber das Ziel einer ergebnisneutralen und fairen Reform: Das Gesetz simuliert Kontinuität und täuscht damit über den Bruch mit einer eingeübten und vertrauten Demokratieerfahrung hinweg, weil die Zäsur sich nicht ohne Weiteres erschließt, wenn einerseits von einer Stärkung des Verhältniswahlrechts gesprochen, andererseits die zunehmende Bedeutung der Wahlkreise betont wird und am Ende wegen der Veränderungen bei der Erststimmenwahl diese gerade keine echte Wahl mehr ist.

Dieses Wahlrecht führt zu einer massiven Schwächung des direktdemokratischen Elements der Wahl und erweist damit der Demokratie – gerade in herausfordernden Zeiten – einen Bärendienst. Es bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht sich diesen Bedenken nicht verschließt.

Der Autor vertritt die CSU in dem Verfahren gegen die Änderung des Wahlrechts vor dem Bundesverfassungsgericht. Sein Denkanstoss erschien in der dritten Ausgabe des politicus. Mehr dazu in Publikationen zur aktuellen Politik - Hanns-Seidel-Stiftung (hss.de)