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Antisemitismus 2.0
Netzkultur des Hasses

Der alte Antisemitismus hat ein neues Sprachrohr gefunden: Das Internet. Nicht nur in einschlägigen Filterblasen gedeiht der Hass auf Juden, er dringt in die Breite, vergiftet die digitale Kommunikation und kleidet sich immer häufiger in das Gewand politischer Kritik, wie eine Studie der TU-Berlin nahelegt.

Antisemitismus im Internet hat im digitalen Zeitalter stark zugenommen und erlebt gegenwärtig eine traurige Blüte. Das belegt eine Langzeitstudie der TU Berlin. Sie hat untersucht, wie antisemitische Inhalte über das Netz verbreitet werden, welche Typen von Antisemitismus dabei dominant sind und inwieweit alte judeophobe Stereotype im 21. Jahrhundert modern artikuliert auftreten. Auf Einladung der Hanns-Seidel-Stiftung, der Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus und der evangelischen Stadtakademie war Monika Schwarz-Friesel, Kognitionswissenschaftlerin und Leiterin der Studie, im Juli nach Nürnberg gekommen, um im Rahmen der „Woche der Brüderlichkeit“ die zentralen Ergebnisse zu präsentieren.

Orthodoxer Jude geht an einer Hauswand entlang. Kopf hängt herunter.

Die Bemühungen der letzten Jahrzehnte im Kampf gegen Antisemitismus waren nicht so erfolgreich wie gedacht. Auch in Deutschland ist offene Hetze gegen Juden häufiger geworden, nicht nur im Netz.

carmine-savarese; ©0; unsplash

Schöne Sonntagsreden reichen nicht

Auf drei Sätze komprimiert besagt die Studie: Das Internet ist der primäre Multiplikator und Tradierungsort von Antisemitismen. Die Aufklärungsbemühungen der letzten Jahrzehnte haben in der Gesellschaft nicht flächendeckend gewirkt und zu Sensibilisierung im Umgang mit Antisemitismus geführt. Antisemitismus ist deshalb heute in Deutschland immer noch und seit einigen Jahren sogar wieder zunehmend ein besorgniserregendes Phänomen, woraus sich auch und gerade für die Politik ein deutlicher Handlungsauftrag ergibt. „Es reicht nicht“, so die Professorin in der Diskussion mit ihren über einhundert zumeist jungen Zuhörern, „einmal die Woche schöne Reden zu halten und ‚wehret den Anfängen!‘ zu rufen. Wir sind bereits weit über diese Anfänge hinaus.“ Was wir dringend bräuchten, sei eine breite gesellschaftliche Diskussion über eine „digitale Ethik“. Unseren Kindern und Jugendlichen nur die technischen Fähigkeiten für das digitale Zeitalter zu vermitteln, sei definitiv zu wenig.

Zuvor hatte sie die zentralen Ergebnisse der DFG-geförderten Langzeitstudie „Antisemitismus im www“ vorgestellt:

Danach gibt es nicht nur häufiger antisemitische Äußerungen im Netz, sie werden auch radikaler. Seit 2009 haben sich NS-Vergleiche, Gewaltphantasien und drastische, dämonisierende und dehumanisierende Herabsetzungen wie „Pest“, „Krake“, „Krebs“ oder „Unrat“ verdoppelt. Wörtlich sprach Schwarz-Friesel  von einer deutlich messbaren „Absenkung der Tabuisierungsschwelle“. Das Aktionsfeld für Antisemiten hat sich im Web exorbitant vergrößert. Besonders wichtig sind dabei Kommunikationsräume und Portale, die Anknüpfungspunkte an die alltägliche Lebenswelt anbieten , etwa Fan- und Diskussionsforen, Ratgeberportale oder soziale Netzwerke. Diese würden mittlerweile gezielt von Nutzern mit antisemitischen Einstellungen infiltriert, um ihre judeophoben Botschaften möglichst breit zu streuen.

Beispiele wie die Hashtags #KindermörderIsrael oder #gazamassacre leiten über zu einem zweiten Komplex der Studienergebnisse: Der sogenannnte „Israelbezogener Antisemitismus“ ist in allen Kommunikationsbereichen und auf allen Ebenen des Internet eine vorherrschende Ausprägungsvariante von Judenhass. Dabei zeigt sich die „Israelisierung der antisemitischen Semantik“ auch in Themenfeldern, die in keiner Relation zum Nahostkonflikt bzw. Israel stehen. Juden- und Israelhass bildeten dabei eine Symbiose, die maßgeblich vom Konzept des „Ewigen Juden“ geprägt sei: „Juden als Fremde, Böse, Andere, als Wucherer, Ausbeuter und Geldmenschen […]“.

Definition Antisemitismus:

Die Internationale Definition des Antisemitismusbegriffs der „International Holocaust Remembrance Alliance IHRA“, die Bayern als erstes Bundesland 2019 offiziell und rechtlich bindend für sich angenommen hat, besagt: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.“


Dabei kommt es offenbar nicht darauf an, ob antisemitische Ausfälle von rechten, linken, muslimischen oder Usern der Mitte kommen. Alle rekurrieren gemeinsam auf klassische Stereotype der Judenfeindschaft und verwenden homogen judeophobe Argumente, die insgesamt von einer emotionalen Affektlogik bestimmt werden. In der Studie wurden zahlreiche Strategien der Abwehr, Leugnung, Umdeutung und Marginalisierung von Antisemitismus offengelegt. Antisemitismus, besonders die israelbezogene Spielart, würde dabei häufig als „Kritik, Kunst- oder Meinungsfreiheit“ re-klassifiziert, um in Einklang mit der offiziellen Bewertung im Post-Holocaust-Bewusstsein politisch korrekt und sozial angemessen zu erscheinen. Man spreche dann zum Beispiel nicht von „Juden oder Judentum“, sondern von „Israelis oder Zionismus“.

Wo liegt die Grenze?

Gerade die Abgrenzung zwischen Antisemitismus und Israelkritik lag der international renommierten Antisemitismusforscherin besonders am Herzen. Hier dürfe es keine Grauzonen geben. Selbstverständlich dürfe man sachlich begründete Kritik an der israelischen Regierung üben. Wenn aber Israel als Projektionsfläche für antisemitische Ressentiments diene und tradierte anti-jüdische Stereotype und Argumente benutzt würden, um den Staat Israel generell zu diskreditieren, wenn seine jüdischen Bürger kollektiv dämonisiert und seine Existenzberechtigung als jüdischer Staat in Frage gestellt werde, wenn ein irreales Feindbild von Israel konstruiert würde, dann liege keine Israel-Kritik, sondern verbaler Antisemitismus in der Formvariante des Anti-Israelismus vor.

Ein Appell des Abends in Nürnberg sollte nicht verhallen: Nicht weiter so! Die bisherigen Bemühungen haben den Judenhass nicht eingedämmt, und mit dem Internet ist nun zusätzlich mitten in der Gesellschaft ein Kommunikationsinstrument für die Verbreitung antisemitischen Gedankenguts vorhanden, die das Potenzial hat, den Hass intensiver und unkontrollierter denn je in die Zukunft zu tragen.

Vor diesem Hintergrund reicht es nicht aus, Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, was im Holocaust geschehen ist. Auch in der Gegenwart stehen Aufarbeitungsprozesse an, die eingeschliffene Muster betreffen. Dazu gehört aktuell: Ein Ende der Floskelkultur. Die zur bloßen Routine erstarrten Gedenk- und Mahnreden, die turnusmäßig seit Jahren mit fast exakt dem gleichen Wortlaut geschwungen werden, müssen aufgebrochen werden, um Bewegung und Handlung auszulösen. Die Debatte um alle Formen von Judenfeindschaft muss offener und rationaler geführt werden, ohne überzogene politische Korrektheit, ohne falsche Rücksichtnahme oder aus Sorge um soziale Reaktionen. Wer wirklich etwas gegen Judenhass unternehmen möchte, der muss sich auch mit seinesgleichen anlegen, der darf Kritik nicht scheuen, der darf die Augen nicht verschließen. Bislang war die Antisemitismusbekämpfung häufig geprägt von Bequemlichkeit und Ignoranz. Beides ist tödlich – für Juden und für die Zukunft unserer Demokratie.

Mit der Schaffung eines „Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe“ ist der Freistaat Bayern 2018 einen beispielgebenden Schritt in die richtige Richtung gegangen. Der Beauftragte ist ressortübergreifend tätig und arbeitet mit allen Staatsministerien und der Staatskanzlei zusammen. Er regt Maßnahmen an und unterstützt bei Aufgaben, um das jüdische Leben in Bayern zu fördern und zu würdigen, um jede Form des Antisemitismus zu bekämpfen und präventiv entgegenzuwirken sowie die Erinnerungsarbeit und die Pflege des historischen Erbes zu stärken.

Die vom Bayerischen Sozialministerium geschaffene „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern“ (RIAS Bayern) im März dieses Jahres, die Fälle von Belästigung bis zu strafrechtlichen Handlungen registriert und analysiert, ist ein weiterer wichtiger Baustein für die Prävention von Antisemitismus in Bayern und ein deutliches Signal, dass auch von politischer Seite neue Wege gegen einen „Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses“ gegangen werden.